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Kunsttherapie und Scherenschnitt
 

Aktivierung durch Akzeptanz der eigenen Person /Sichtveränderung
Durch Techniken wie Faltschnitte, Umklappefekte kann eine festgefahrene Denkweise gelockert werden. Durch Variationen der Nachschnitte tritt das schöpferisch-spielerische Element mehr in den Vordergrund. Eigen geschaffene Schnitte in der Technik des „Drauflosschneidens“ können erfreuliche Entdeckungen und Deutungen hervor. Bildbeispiel S. 28. Das Leben kann letztendlich mehr Bedeutung finden. Die Person wird aktiviert. Sie lernt sich und ihre Werke anzunehmen und wird in ihrem weiteren Tun bestärkt. Die Selbstachtung wächst. (Die Rorschach Tintenklecks-Methode profitiert von der gleichen Vorgehensweise)

Die Arbeit in Gruppen ergibt weitere positive Ergebnisse:

Kommunikation/Sozialkontakte
Der Austausch unter den Gruppenteilnehmer/innen bewirkt Reflekxion und Vergleich von Erfahrungen. Dadurch wird die Einsicht angestoßen, daß es unterschiedliche Wahrnehmungen und Deutungen gibt, und daß die eigenen Wahrnehmungen zu relativieren sind.
Stärkung des Antriebs und der Motivation der Person
Durch die klare Strukturgebung im Scherenschnitt (Konturschärfe) wird dem Schaffenden eine Steigerung seiner Ausdruckskraft und Antriebskraft möglich. Das neue Bearbeiten von Themen in der Bildübersetzungen setzt Kreativität mehr und mehr in Gang und läßt freie Schnitte entstehen. Diese können zu Verfeinerungen oder auch in großzügigeren Flächen einladen. Der freie Schnitt hilft Angst überwinden und gibt Mut zu Abstrahierung und zur freien Komposition.


Ausblick
Die Scherenschnittkunst hat ihren Platz in der Volkskunst, im Kunsthandwerk, in der Kunst. Sie könnte auch in der Kunsttherapie wertvoll eingesetzt werden. In einem an mich gerichteten Brief der Malerin Hildegard Wörle, die von der Stadt Ettlingen alle 5 Jahre eine Ausstellung finanziert bekommt, und die sich auch mit dem bildnerischem Mittel des Scherenschnitts ausdrückt, heißt es: „Im Karlsruher ZKM (Zentrum f. Kunst und Medienkommunikation) hat man den Scherenschnitt als „Nicht-Kunst“ abgetan, als ob nicht das Malen zum größten Teil auch Handwerk ist“. (Ihr Schreiben im September 1999) Der Scherenschnitt steht also im ewigen Streit zwischen den Standorten Kunsthandwerk und Kunst. Ich möchte eine Vermittlungsposition vorschlagen.

Was soll, was kann Kunst, speziell die Scherenschnittkunst- so noch einmal gefragt - dazu beitragen, daß menschliches Leben Verhalten wieder durchschaubarer und facettenreicher wird ? Wenn es gelingt, daß der künstlerisch-kunstpädagogische Ansatz etwas vom spielerischen Moment des künstlerisch-kreativen Prozesses einschließt, kann es zu dem kommen, was das Kind im Spiel und der Künstler benötigen: Hoffnung auf eine positive Zukunft, auf Veränderungen, die auf ein Gehaltenwerden, jene früheste psychosoziale Kraft, die von wesentlicher Bedeutung für die Ich-Entwicklung und Stabilisierung der eigenen Identität ist. So wie das Kind im Spielen nicht nur Funktionen, Fähigkeiten, Eigenschaften und Leistungen lernt, sondern auch das Menschsein lernt und lebt, so kann der Scherenschnitt einem Menschen wieder Zugang zum spielerischen Anteil seines Wesens gewähren, das mitgespeist wird aus den tieferen Schichten seiner Seele. Dies ist ein Vorgang, wie der ihn erlebt, der immer wieder hinabsteigt und sich anrühren läßt von seinem Bilderschatz der Seele, der sich auseinandersetzt mit den Schattenseiten und den integrierenden Anteilen seines eigenen Wesens. Spielen in Form von Kunsttherapie heißt auch, sich die Welt entwerfen. Wenn das notwendige Vertrauen über ein schützendes Setting hergestellt und gewahrt ist, können in der Kunsttherapie oft „Selbstüberraschungen“ durch das Geschaffene gemacht werden. Erich Nolde formulierte einmal, daß seine schönsten Bilder stets „Selbstüberraschungen“ waren, die ihm gleichsam zufielen, die nicht er gemalt hatte, sondern „es“ hatte gemalt. Von Pablo Picasso stammt der Ausspruch: „Das Geheimnis der Kunst liegt darin, daß man nicht sucht, sondern findet.“ (1974) Insofern ist Kunsttherapie häufig eine sanfte, gleichsam spielerische Psychotherapiemethode. (Vgl. Nissen, 1999, S. 2O5 - 2O6)

Als Fazit meiner Arbeit und eigener Erfahrungen, möchte ich festhalten, daß mit dem bildnerischen Mittel des Scherenschnitts ein Erkenntnisprozeß eingeleitet werden kann, der über Schwarz-Weiß, Licht und Schatten ein Spiel zwischen den Polaritäten ermöglicht.

Aus der kunstgeschichtlichen Entwicklung ist zu ersehen, daß der Scherenschnitt sich aus der Anfangskunst entwickelt hat, die mit Umfanglinien eines Körpers (Schattenriß oder Silhouette) in der Menschheitsgeschichte begann. Kann der Scherenschnitt vielleicht auch eine Anfangsmethode im Leben des Einzelnen sein, der im therapeutischen Bereich leider viel zu wenig Beachtung geschenkt wird? Menschen brauchen in dunklen Zeiten Spiegelungen um sich aufzubauen. Genau dieses könnte der Schwarz-Weiß Schnitt mit seinen Möglichkeiten bieten. Auf alle Fälle kann er das Bedürfnis nach einfacher überschaubarer Orientierung einlösen.

Das Ziel dieser Arbeit war, zur Balance zwischen den Gegensätzen durch die Möglichkeit der Scherenschnittkunst zu verhelfen.

Wenn Joseph Beuys sagt, daß Kunst Therapie sei, und jeder Mensch ein Künstler sei, dann meint er damit nicht, jeder Mensch sei ein Maler oder Bildhauer, er meint vielmehr, daß die Kunst dabei helfen kann, psychische Probleme zu bewältigen, und daß jeder Mensch künstlerische Fähigkeiten besitzt, die anerkannt und ausgebildet werden können. In diesem Fall können wir von Gesell-Gesellschaftstherapie sprechen. (Vgl. Petzold H, Orth, I, (Hrg.), 1991, S. 33)
Grundlage ist dabei ein allgemeiner Kunstbegriff, wonach alle Äußerungen und Tätigkeiten des menschlichen Lebens als Kunst gelten. Da das Kunstwerk als Erkenntnisprozeß und als Zukunftsmodell eine gesell-schaftsbezogene Rolle einnimmt, kann daraus das politische Engagement des Künstlers resultieren. Der Begriff der „sozialen Plastik“ von Josef Beuys geprägt, verweist den Menschen auf seine Möglichkeit, das Innere und das Äußere zu gestalten. „Alle Fragen der Menschen können nur Fragen der Gestaltung sein, und das ist der totalisierte Kunstbegriff“. (Petzold, H., Orth I, (Hrsg.), 1991, S. 6O2)

In Therapie und therapieähnlichen Situationen sollte man auf das emanzipatorische Potential der Kunst zurückgreifen, zumal es häufig um Menschen geht, die sozial geschädigt und deren Krankheit Ausdruck sozialer Pathologie, kranker Aspekte unserer Gesellschaft sind. (Vgl. Petzold H, Orth I, (Hrsg.), 1991, S. 6O2)

„Kunsttherapie“ im weiteren Sinne umschließt kreativ-therapeutische Verfahren mit allen Diziplinen des künstlerischen Spektrums, bei denen es um Phantasie, Emotionen und künstlerisch-ästhetische Aspekte geht. Als Kunsttherapie im engeren Sinne sind die künstlerischen Therapieformen mit den bildnerischen Gestaltung-tungsselementen gemeint, als da sind: Linie, Fläche, Die Arbeit mit kreativen Medien umfaßt die gleichen Medien, die auch in den Kunstformen zur Anwendung kommen z.B. Matsch und Ton, Papier, Glas, Musik, Tanz, Märchen usw. Es sind die gleichen Medien, die ein Kind im Laufe seiner Entwicklung zum Spielen verwendet. Ähnlich wie kindliches Spielen bietet auch der therapeutische Umgang mit kreativen Medien die Möglichkeit, sich besser kennen und verstehen zu lernen, sich auszuprobieren, sich auszudrücken. (Vgl. Nissen, 1999, S. 198)

In einer Veröffentlichung von Peter Bauken und Jürgen Thies, die vorher den Titel getragen hat: „Aktuelle Tendenzen in der Kunsttherapie“ und heute nach der Neuauflage den Titel „Kunsttherapie“ trägt, findet sich eine lesenswerte Auseinandersetzung mit den verschiedenen kunsttherapeutischen Ansätzen. Die verschiedenen Methoden der Kunsttherapie lassen sich mit Bauken und Thies in 7 Gruppen unterteilen, wobei die Zuordnungen sich teilweise vermischen: Der psychiatrische Ansatz, der künstlerische kunstpädagogische Ansatz, der heilpädagogische Ansatz, der psychotherapeutische Ansatz, der antroprosophische Ansatz, der rezeptive und integrative Ansatz.
(Vgl. Baukus, Thies, in: Petzold, 1997, S. 269 - 275) Meine Arbeit und mein Arbeiten ist unter dem Ansatz „künstlerisch kunstpädagogisch“ einzuordnen.

Neue Zielsetzungen in der Gesundheitsbildung:
Wahrnehmen und wählen können
In der künstlerisch-kunstpädagogischen Kunsttherapie bedeutet die notwendige Gelassenheit nicht Ziellosigkeit. Die Ziele der Gesundheitsförderung und Gesundheitsbildung sind die Ziele, die sich die Handelnden für ihr eigenes Tun setzen, d.h. Selbstveränderung und nicht Fremdbestimmung. Daher kann der Lernprozeß und das Ergebnis einer Bildungsveranstaltung nicht vorher festgelegt sein. In der Gesundheitsförderung, die sich mit Lernprozessen Erwachsener beschäftigt, lassen sich wiederkehrende Elemente finden:

Ein Element ist die Wahrnehmung, das sinnenorientierte, ästhetische (aisthesis = wahrnehmen) Erleben der eigenen Person in der Welt. Es wird nicht primär Veränderung angezielt, sondern das „Sich-annehmen“, die Akzeptanz und Achtung der eigenen Person. Diese geht in der Folge mit einer Veränderung einher, die sich aus der Struktur der Person entwickeln muß und nicht von außen diktiert werden kann. Es wird davon ausgegangen, daß jede Wirklichkeit die Wirklichkeit eines Beobachters, der wahrnehmenden Person mit ihren Erklärungen und Deutungen ist.

Ein zweites Element ist die Betrachtung gesundheitlicher Phänomene unter biographischen Gesichtspunkten, das heißt, eigene Bilder werden über die
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft thematisiert. Es wird von der Einsicht ausgegangen, daß Einstellungen, Begriffe und Vorstellungen in der jeweiligen Lebensgeschichte entstanden sind.

Ein drittes Element vergleicht die Bilder und Erfahrungen im Kontext der Gruppe und weckt die Einsicht, daß unterschiedliche Wahrnehmungen und Deutungen möglich sind, die eigenen Wahrnehmungen somit auch prinzipiell
hinterfragt werden können. Die Wahrnehmungsmöglichkeiten erweitern sich, und die Wahlentscheidungen werden komplexer. (Vgl. Blättner in:
Weitkunat, S. 124 - 125)

Wege der Heilung mit dem Scherenschnitt

Bei der Untersuchung der Scherenschnitte ist mir aufgefallen, daß Scherenschnitte sich mit gewissen Thematiken beschäftigen: mit Märchen aber auch mit religiösen Darstellungen und religiösen Themen (Mutter- oder Marienfiguren).

Ich habe auch festgestellt, daß viele der Scherenschnitt-Symbole auch archetypische Bilder zeigen, die nicht nur in dem eigenen Kulturhorizont, sondern vielfach auch in anderen Religionen und Kulturen vorzufinden sind z. B. (Mandala). Von daher ist es gut vorstellbar, daß die Scherenschnitte auch Schlüssel für die Erschließung psychischer Zustände oder des eigenen Lebens sind.

Für meine eigene Tätigkeit des Scherenschneidens als künstlerisch-kunstpädagogisches Medium haben sich 4 Schwerpunkte ergeben, die ich hier benennen möchte: Bewältigungsarbeit, Aktivierung durch Akzeptanz der eigenen Person und Sichtveränderung, Kommunikation/Sozialkontakte und Stärkung des Antriebs und der Motivation der Person.

Dabei ist eine zwischenmenschliche Beziehung als kunsttherapeutische Grundlage vorauszusetzen, die es ermöglichen soll, sich entspannt, angstfrei und vertrauensvoll zu erkunden, ohne den Erwartungen und Vorstellungen eines anderen entsprechen zu müssen.

Bewältigungsarbeit
Durch selbstgewählte Symbolbilder, die zu Nachschnitten benutzt werden, wird eine gute Voraussetzung zur „aktiven Imagination“ gegeben: Das Symbolbild ist kraftgeladen und kann geistige Prozesse anstoßen. Das Ich setzt sich mit den Gegebenheiten der Phantasie aktiv auseinander. Der ganze Mensch ist mit seinem Erleben und inneren Tun beteiligt. (Passive Imagination ist, wenn das Bewußtsein innere Bilder wahrnimmt und an sich vorbeiziehen läßt.) Durch die Wahl für ein Nachschnittbild ist ein konzentriertes aktives Tun verbunden.
Dadurch kann Vergangenheit rückerinnert werden, und das Erkennen von krankmachenden Beziehungsmustern wird möglich. Durch die vernetzten Formen werden Beziehungen entdeckt. Der Scherenschnitt könnte auch als Metapher für ganzheitliches, vernetztes und systemisches Denken stehen. Durch die Wahl der Schnittechnik kann das Vorder- oder Hintergrundsehen geübt werden und das positive und negative Erfassen einer Situation. Perspektiven oder Sehweisen werden verändert und ins eigene Leben übertragen.